Musikalische Stigmata

Wenn man nur tief genug in seiner eigenen Vergangenheit gräbt, findet man einiges an Stellen die einem tierisch peinlich sind und im Gedanken daran noch heute rot werden könnte. Der sehr oeffentlich empfangene Korb, den man sich bei einer Dame abgeholt hat (obwohl selbst für den oberflächlichen Beobachter dieses Ergebnis absehbar war) kann als der forcierte Versuch einer Persoenlichkeitsbildung (Der Mensch wächst mit seinen Herausforderungen und Blamagen) angesehen werden. Der den ganzen Tag falschrum getragene Pullover oder der offengebliebene Verschlussmechanismus eines anderen Kleidungsstuecks ist da eine nur eine Nichtigkeit und kann mit viel gutem Willen als modisches Statement durchgehen.
Viel schlimmer ist da eine andere Art Peinlichkeit. Die Stigmata des Musikgeschmacks in der Jugend. Ich habe gestern Abend die letzten CDs in iTunes eingelesen. 11,8 Tage Musik, alles ehrlich erworben. Mir muss also niemand ein Ständchen vorm Kerker halten. Ich frage mich heute noch, was mich so mit 18 oder 19 getrieben hat, Jean-Michel Jarre hoch und runter zu hören. Eine Mitschülerin meinte damals, das diese Musik ja total seelenlos sei. Und heute muss ich ihr konstatieren: Sie hatte recht! Und vor allen Dingen: Gab es damals keinen Bass auf Synthesizern? Keine komplexen Liedstrukturen? In den Neunzigern des letzten Jahrhunderts habe ich dann angefangen Gothic zu hoeren. Auch das kann ich heute nur noch beschraenkt ertragen. Meistenteils ist es doch nur pseudomelancholische Musik in fragwürdiger handwerklicher Qualität. Nur das hätte man mir vor etwa 10 Jahren mal in dieser Art sagen sollen. Der Blick in das CD-Regal weisst einem immer wieder auf neue darauf hin, mit welcher Begeisterung man früher Musik gehoert hat, an die man heute nicht erinnert werden mag.Wie sollen sich die Jugendlichen von heute die Schnappi-CD oder das Burger-King-Lied erklaeren, wenn diese dereinst knapp ueber 30 anfangen ihre CD fuer den 10 Exabyte-iPod zu rippen. Das man etwas nun garnicht mehr hören mag, was man vor Jahren noch zur allgemeinen Entnervung der Umgebung in Dauerrotation laufen liess, zeigt wohl, das sich der Musikgeschmack weiterentwickelt. Das hat allerdings auch eine beunruhigende Seite: Das Hoeren von Volksmusik ist also keine Eigenart derjenigen, die vor 1950 geboren sind, sondern ist wohl universeller Endzustand eines jeden Musikgeschmacks. Und nebenbei angemerkt: Ich habe letzte Woche erstmals im iTMS zu der Fraktion um Vivaldi, Bach und Karajan gegriffen. Es fängt an. Ich habe Angst!