Morgens halb sechs in Deutschland ...

Man sagt, das jede Reise mit einem ersten Schritt beginnt. Das gilt auch für Dienstreisen. Nur das hier der erste Schritt besonders schwer ist. Es ist der Schritt, der mich aus dem Bett herausträgt. Gerade noch in der Wärme meiner Bettdecke, stehe ich ziemlich verknautscht vor dem Spiegel, puitze mir geistesabwesend die Zähne. Versuche etwas weniger geistesabwesend eine Rasur durchzuführen, um ein größeres Blutbad abzuwenden. Glück gehabt. Duschen. Endlich etwas wacher, aber nicht wach. Lebensgeister, wo bleibt ihr. Anziehen. Überlegung. Freundlicher Kunde, keine Bank. Okay. Business Casual reicht. Mist … zehn vor sechs .. dann also keinen Kaffee … Lebensgeister, ihr könnt noch eine weile länger schlafen. Die Insignien meines Berufsstandes eingesammelt: Notebook, Handy, wo verdammt noch mal ist das Netzteil. Das Netzteil grinst mich zwei Minuten später an und sagt so etwas wie “In der Steckdose, in die du mich gestern reingesteckt hast”. Jacke anziehen, in Kleingeldglas greifen, zur U-Bahn laufen. Kalte Luft, es ist dunkel, es wird Winter, zumindestens die Hamburger Interpretation davon.
Hammer Kirche, Burgweg,Berliner Tor, Hauptbahnhof Sued. “… zu den Fernbahnen”. Okay …das gilt für mich. Auch wenn fern ein relativer Begriff ist. Schoen waere jetzt “fern aller Arbeit”,”ferne Südsee”,”ferner nach Diktat in Urlaub gegangen”. Mein Fern heisst Berlin. Also allenfalls ein nahes Fern. Hamburg-Berlin ist per Bahn nur noch ein Katzensprung. Wir fahren die Strecke bei jeder Witterung. Nee, das Lied ging anders. Ist aber auch egal. Aussteigen, sich den Platz auf der Rolltreppe erkämpfen.
Als ginge es ums Leben wird hier von den Mitreisenden keine Handbreit nachgegeben. Habe keine Lust auf Kontaktsport. Die normale Treppe nehmen. Ist sowieso schneller. Crobag links liegen lassen. Katharina Witt scheint seltsame Gewohnheiten bezueglich der Körperhaltung beim Milchtrinken zu haben. Und im Hinterkopf gleich wieder an Photoshop denken. Die Kosmetik der Stars.
Die Rolltreppe rollt nicht. Okay, dann auch hier die Treppe für Selbstbeweger. Irgendwo im Bahnhof ist ein Pendlerzug aus den Schlafdörfern rund um Hamburg gekommen. Hunderte Menschen verteilen sich auf dem Südsteg, alle schnellen Schrittes ihres Weges gehend. Bahnsteig 5. Auf die Reservierung schauen. Wagen 31. Das ist das Ende. Vom Zug. Irgendwo hat irgendwer heute wieder eine Dose viel zu lauter, schwarze Anzüge und rosa Hemden tragende Berater aufgemacht. Links liegen lassen. Sich weit wegstellen. Für das aussagslose Gebrabbel, das dieser Menschenschlag untereinander zu pflegen scheint, fehlt mir heute die Fähigkeit zur Toleranz.
Warten. In die Leere zwischen den die Gleise starren. Wie es alle tun, die alleine unterwegs sind. Es wird kalt. Es ist kalt. Endlich … der Zug fährt ein. Fährt schleichend vorbei. Und vorbei. Und vorbei. Gemessen an der Zahl der schon jetzt aus dem Zug heraus leuchtenden Notebooks das übliche Amalgam aus Geschäftsreisenden, Langstreckenpendlern und einigen wenigen Touristen, die ihren Aufenthalt in jener eigentlich überschätzten Stadt an der Spree in die maximal mögliche Länge für einen Eintagesaufenthalt ziehen möchten. Mir ist nach gedämpften Licht. Ich lasse meinen reservierten Platz rechts liegen und setze mich in die Lounge. Hochtrabender Titel für das kleine Abteil am Anfang und am Ende der Züge, die auf dieser Strecke eingesetzt werden. Eine Frau sitz schon hier. Füsse auf den Polstern. Die Füsse in einer Strumpfhose. Einer Strumpfhose, die sicherlich auch bald den Weg alles Verbrauchten gehen wird. Laufmaschen setzen ihr übel zu. Seltsam, das mir sowas zuerst auffällt. Geschäftsfrau mit Panzerbrille.
Der Zug zieht durch die erwachende Stadt. In den Bürogebäuden brennt bereits Licht. Anderthalb Stunden bis Berlin. Anderhalb Stunden zu einer neuen Aufgabe. Die Sonne geht nur langsam über einer im Nebel liegenden Landschaft auf. Kollektives durch den Morgen dämmern. Endlich, nach einer Stunde … der freundliche Zugbegleiter mit dem Kaffeetablett. Die Lebensgeister können erwachen.
Hinter mir sind wieder die ersten Vorboten des nahen Berlins zu sehen. Zeit diesen Text abzuschliessen. Das Notebook wieder einzupacken. Mal sehen, was dieser Tag bringen wird.