Blicke, Bahn und Mitreisende

Wenn ich nicht Bahnfahren könnte, würde ich im Grunde eine ganze Menge verpassen. Der Mensch als solches ist in seiner Verdichtung in einem Bahnwaggon eine äusserst interessante Spezies. Es ist schwer in einem Zug möglichst belanglos in die Leere zu starren, weil es diese Leere nicht gibt. Als Reisender an einem Fensterplatz ist dies relativ leicht. Der Blick aus dem Fenster ist einfach. Man ist mit sich, der Scheibe und der Landschaft dahinter alleine. Am Gang wird das etwas schwerer. Unweigerlich kreuzen sich die Blicke. Unweigerlich ist man gezwungen einen anderen Menschen anzusehen.
An sich ist das nicht schlimm, doch in Deutschland gibt es dem Anschein nach das Gefuehl, das das etwas ist, was man nicht tut. So sitzen also hunderte Menschen in einem ICE die alle miteinander versuchen, dem Blick anderer Menschen auszuweichen und selbst nicht in den Blick anderer Menschen zu geraten. Was im Falle eines vollbesetzten Zugs ein nahezu aussichtloses Unterfangen ist.
Nungut, ich habe damit angefangen, das die Reisenden ein lohnenswertes Ziel der eigenen Beobachtung sind. Ich habe ja schon häufiger geschrieben, das man hier merkt, wieviele Vorurteile man mit sich trägt und wie sehr man in ihnen verfangen ist. Die zu betont modisch gekleidete Frau mit der Sonnenbrille auf dem Kopf wird ebenso schnell in eine nicht alllzu vorteilhafte Schublade sortiert wie jener Mann mit der ebenso vernehmlichen wie nangenehmen Art und Weise zu lachen. Der Mensch ist ein Vorurteilstier und ich bin da keine Ausnahme. Vielleicht hege ich ob der tausenden Menschen, die ich im Jahr im Zug sehe sogar mehr als alle Anderen. Doch ohne diese Schubladen, deine Mitreisenden zu sortieren, zu klassifizieren und zu etikettieren wäre Reisen eine langweilige Geschichte. Denn draussen hinter dem Fenster ist doch nur das selbe. Landschaften und Städte, die dem Reisenden nur selten ihre vorteilhafteste Seite zeigen.